Alfred Adler: Was macht ihn so aktuell für unsere moderne Arbeitswelt

Alfred Adler gilt als einer der wichtigsten, wenn auch oft unterschätzten, Begründer der modernen Tiefenpsychologie, dessen theoretische Ansätze heute aktueller sind denn je. In einer Zeit, in der das Gefühl der Zugehörigkeit schwindet und die psychische Belastung zunimmt, ist das Verständnis seiner Konzepte für die individuelle und gesellschaftliche Gesundheit unerlässlich. Jüngste Untersuchungen zur Arbeitsunfähigkeit in Deutschland belegen diesen dringenden Handlungsbedarf: Laut dem AOK-Fehlzeiten-Report 2024 nahmen die Ausfallzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen seit 2014 um alarmierende 47 Prozent zu, was auf eine zunehmende Belastung der Bevölkerung hindeutet. Im Zentrum von Adlers Werk, der 1911 mit Sigmund Freud brach und die Individualpsychologie gründete, steht die Erkenntnis, dass der Mensch ein unteilbares, zielgerichtetes und primär soziales Wesen ist, dessen Handlungen stets auf ein fiktives Endziel ausgerichtet sind. berichtet die Redaktion GlückID.
Das revolutionäre Menschenbild: Finalität und die Einheit der Persönlichkeit
Alfred Adlers Individualpsychologie unterscheidet sich grundlegend von Freuds Kausalitätsprinzip, indem sie den Menschen nicht als Produkt vergangener Triebe, sondern als zielgerichtetes, zukünftiges Wesen betrachtet. Er postulierte, dass jeder Mensch von einem inneren Drang zur Selbstverwirklichung und zur Überwindung von Unzulänglichkeiten geleitet wird, den er als das Streben nach Überlegenheit bezeichnete. Dies ist kein Streben nach Herrschaft über andere, sondern die angeborene Bewegung von einem empfundenen Minus zu einem angestrebten Plus, das im Lebensstil jedes Einzelnen Ausdruck findet. Adlers Konzept der Finalität besagt, dass psychische Prozesse und Verhaltensweisen am besten durch ihre Zweckmäßigkeit und das angestrebte, fiktive Endziel des Individuums verstanden werden können, selbst wenn dieses Ziel unbewusst bleibt. Forschungen im Bereich der Neurowissenschaften belegen heute, dass unsere Entscheidungen stark von antizipierten Belohnungen und Zielen gesteuert werden, was Adlers Fokus auf die Zukunftsgerichtetheit des menschlichen Handelns bestätigt.
Die fundamentalen Leitlinien, die das menschliche Handeln bestimmen:
- Finalität: Das zielgerichtete Handeln auf ein fiktives Endziel hin.
- Ganzheitlichkeit: Die Persönlichkeit ist eine unteilbare Einheit (Körper, Psyche, Geist wirken zusammen).
- Subjektive Wirklichkeit: Die individuelle Interpretation der Welt zählt mehr als die objektive Realität.
- Kreatives Selbst: Der Mensch ist kein Opfer seiner Umstände, sondern der Schöpfer seines Lebensstils.
- Sozialität: Der Mensch ist von Natur aus ein soziales Wesen und kann nur in der Gemeinschaft gedeihen.
Der Minderwertigkeitskomplex als Motor: Antrieb oder Bremse
Das Minderwertigkeitsgefühl ist für Alfred Adler keineswegs eine psychische Krankheit, sondern eine universelle menschliche Erfahrung, die tief in der frühkindlichen Abhängigkeit und Unvollkommenheit verwurzelt ist. Jedes Kind erlebt sich in der Welt als klein, schwach und den Erwachsenen unterlegen, was ein natürliches Gefühl der Unzulänglichkeit hervorruft, das zum Motor der Entwicklung wird. Dieses natürliche Gefühl wandelt sich erst dann zu einem krankhaften Minderwertigkeitskomplex, wenn das Kind durch fehlerhafte Erziehung oder ungünstige Lebensumstände entmutigt wird und den Glauben an seine Fähigkeit zur Bewältigung verliert. Die Kompensation dieses Komplexes treibt den Menschen an, sich zu verbessern, Herausforderungen zu meistern und Höchstleistungen zu erzielen, woraus Adler schlussfolgerte, dass dieses Gefühl „ein Segen für die Menschheit“ sein kann.

Adler unterschied klar zwischen der nützlichen und der unnützen Seite des Strebens nach Überlegenheit:
| Seite des Strebens | Ausrichtung | Merkmale im Alltag |
| Nützliche Seite (Gemeinschaft) | Beitrag leisten, Kompetenz | Mut, Kooperation, konstruktive Leistung, Empathie |
| Unnütze Seite (Persönliche Macht) | Überlegenheit, Dominanz | Eigensinn, Rückzug, übertriebene Konkurrenz, Isolation |
Gemeinschaftsgefühl: Adlers wichtigstes Korrektiv für das Streben nach Macht
Das Gemeinschaftsgefühl ist der entscheidende Begriff in Adlers Individualpsychologie, der die soziale Natur des Menschen hervorhebt und als Barometer für psychische Gesundheit dient. Er verstand darunter mehr als nur Empathie; es ist eine angeborene soziale Haltung, die das Individuum befähigt, sich als Teil des Ganzen zu sehen und konstruktiv am Leben der Gemeinschaft teilzunehmen. Nur wenn das Geltungsstreben im Sinne des Gemeinschaftsgefühls gelebt wird, führt es zu einem gesunden Lebensstil und zur Selbstverwirklichung, während ein Mangel daran unweigerlich zu neurotischen Tendenzen und sozialen Konflikten führt. In der individualpsychologischen Literatur wird betont, dass die Entwicklung dieser Haltung eine lebenslange Aufgabe ist, die durch Ermutigung und soziale Integration gefördert werden muss, insbesondere in den frühen Kindheitsjahren. Forschungen zeigen, dass eine hohe soziale Eingebundenheit und das Gefühl, einen sinnvollen Beitrag zu leisten, signifikant mit psychischer Widerstandsfähigkeit (Resilienz) korrelieren.
Das Gemeinschaftsgefühl wird primär durch die Bewältigung der drei fundamentalen Lebensaufgaben ausgedrückt, die Adler als soziale Herausforderungen identifizierte:
Liste der Lebensaufgaben nach Alfred Adler:
- Arbeit/Beruf: Beitrag zum Fortbestand der Menschheit leisten (gesellschaftliche Nützlichkeit).
- Liebe/Ehe: Die engste Form der Kooperation, die der Fortpflanzung dient (Partnerschaft und Sexualität).
- Gemeinschaft/Gesellschaft: Die Fähigkeit, Beziehungen zu pflegen und Freundschaften aufzubauen (soziale Interaktion).
Praktische Anwendung in Erziehung und Therapie
Die Individualpsychologie ist eine ausgesprochen praxisorientierte Schule, deren Konzepte nicht nur in der Therapie, sondern auch in der Pädagogik und im Coaching eine zentrale Rolle spielen. Der wichtigste therapeutische Ansatz Adlers ist die Ermutigung, da er Neurosen als Ausdruck von Entmutigung und einem Mangel an Mut ansah, sich den Lebensaufgaben konstruktiv zu stellen. Die individualpsychologische Beratung, wie sie in den 1920er Jahren in den Wiener Erziehungsberatungsstellen praktiziert wurde, zielte darauf ab, Eltern und Kinder anzuleiten, den Lebensstil zu erkennen und irrtümliche Zielsetzungen durch soziale und mutige Handlungen zu ersetzen. Dies gelingt durch eine genaue Analyse der Kindheitserinnerungen, der Geschwisterkonstellation und der frühkindlichen Prägung, um das fiktive Endziel des Patienten zu entschlüsseln. Adlers Ansätze, die den Fokus von der Pathologie auf die Ressourcen und die soziale Eingebundenheit legen, haben die humanistische Psychologie und moderne Coaching-Methoden maßgeblich beeinflusst.
| Anwendungskontext | Zielsetzung nach Adler | Methode der Individualpsychologie |
| Pädagogik | Entwicklung von Gemeinschaftsgefühl und Mut | Familienberatung, natürliche Konsequenzen, Fokus auf Stärken |
| Psychotherapie | Erkennen und Korrigieren des Lebensstils | Analyse des fiktiven Endziels, Ermutigung, soziales Lernen |
| Arbeitswelt | Sinnstiftung und Kooperation fördern | Fokus auf den gesellschaftlichen Beitrag der Tätigkeit, Wertschätzung |
Vom Lebensstil zur modernen Psychotherapie
Der Lebensstil ist die Bezeichnung für das unverwechselbare und konsistente Muster von Einstellungen, Überzeugungen und Verhaltensweisen, das ein Mensch entwickelt, um sein fiktives Endziel und das Gefühl der Überlegenheit zu erreichen. Dieses Muster wird in den ersten Lebensjahren unter dem Eindruck des Minderwertigkeitsgefühls und der sozialen Umwelt geformt und dient als eine Art subjektive „Landkarte“ für die Bewältigung des Lebens. Der Lebensstil ist keine statische Eigenschaft, sondern eine aktive Haltung gegenüber den Herausforderungen der Existenz, die im Erwachsenenalter weitgehend unbewusst bleibt, aber alle Entscheidungen beeinflusst. Die Individualpsychologie zielt darauf ab, diesen unbewussten Lebensstil bewusst zu machen, damit der Einzelne seine irrtümlichen Annahmen über sich selbst und die Welt korrigieren und einen konstruktiveren Weg einschlagen kann. Dieses Konzept ist besonders relevant für die moderne Psychotherapie, da es dem Patienten die Verantwortung für seine Entscheidungen zurückgibt und die Möglichkeit zur Neuorientierung aufzeigt.
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